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Was ist Schamanismus?

Aktualisiert: 18. Apr. 2022

Der Schamanismus ist nicht nur die älteste Heiltradition der Welt und hat mehrere Dimensionen, er wird auch gerne misrepräsentiert. In diesem Blogpost zeige ich, was es mit verschiedenen Aspekten von Schamanismus auf sich hat. Dazu zählen die Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen, Energie und der Natur, sowie das Brückenbauen zwischen verschiedenen Welten. Und keine Sorge: was es mit der stereotypen Rassel auf sich hat, erwähne ich auch.



Vier mögliche Definitionen von Schamanismus


Wenn du das Wort “Schamanismus” hörst, oder “Schamane”, was kommt dir in den Sinn? Rasseln, Räucherwerk und Wolfsköpfe als Kopfschmuck? Damit bist du nicht allein. Auch ich habe mir unter Schamanismus früher genau so etwas vorgestellt. In dem Falle handelt es sich aber eher um konkrete Ausprägungen von Schamanismus als das, worum es im Kern geht.

MIttlerweile kenne ich vier verschiedene Definitionen von Schamanismus, die in meinen Augen alle ihre Berechtigung haben.

  1. Die Schamanin arbeitet mit veränderten Bewusstseinszuständen.

  2. Die Schamanin arbeitet mit Energien.

  3. Die Schamanin arbeitet mit und lernt von den Elementen und der Natur.

  4. Die Schamanin ist eine Mittlerin zwischen den Welten.


Schamanismus als Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen


Unsere moderne westliche Gesellschaft ist, was die Bandbreite ihrer akzeptierten Bewusstseinszustände angeht, ziemlich arm. Wenn wir nicht gerade betrunken oder auf MDMA sind, sind wir eigentlich immer in dem Zustand, den wir als “normal” kennen. (Eine Ausnahme davon bilden Momente, in denen wir im “Flow” sind. Das ist aber eher das Thema für einen weiteren Post.) Der Frontalkortex hat die Führung, rationales Planen, Organisieren, Analytisches Denken steht im Vordergrund. Von vier möglichen Bewusstseinsmodi (deep sleep, dreaming, waking, and integrative) gilt nur einer (waking) als “normal”.


„Alternative Bewusstseinzustände zu verteufeln und ihr Heilpotential außer acht zu lassen, ist alles andere als normal.”

Forschung, die verschiedene Kulturen vergleicht, kommt aber zu dem Ergebnis, dass die Verengung des Alltags auf einen einzigen Bewusstseinszustand so normal gar nicht ist (siehe Ember/Carolus 2017; Winkelman 1986, 1992, 2010). Eine Studie, die 488 gegenwärtige Gesellschaften vergleicht, konstatiert z.B., dass 90 % dieser Gesellschaften Trance als kulturelle Praktik kennen. Auch historisch gesehen sind veränderte Bewusstseinszustände viel normaler als man meint: Es gibt Belege, dass schon seit mindestens 100 000 Jahren veränderte Bewusstseinszustände Teil der menschlichen Kultur und Praktiken waren.

Eigentlich kannten und kennen also alle Kulturen mehrere Bewusstseinszustände und weisen diesen eine gesellschaftliche Funktion zu. Moderne westliche Gesellschaften allerdings tendieren dazu, bestimmte veränderte Bewusstseinszustände, die andernorts und zu anderen Zeiten als heilsam oder erstrebenswert galten, zu pathologisieren, marginalisieren oder zu kriminialisieren (Winkelman 2010:4; siehe auch Pollan 2021).

Schamaninnen sind Expertinnen für alternative Bewusstseinszutände

In vielen Gesellschaften erfüll(t)en Schamanninen die Rolle der Expertinnen für alternative Bewusstseinszustände (Winkelman 2010:3). Schamanen treten in Trance ein, um Erfahrungen zu machen und Erkenntnisse zu erlangen. Schamaninnen helfen anderen, in Trance zu kommen, so dass sie heilsame oder Erkenntnis bringende Erfahrungen machen können. Sie sind Führerinnen (guides) in veränderten Bewusstseinzuständen.

In diesem Sinne könnte man argumentieren, dass auch Hypnosetherapeutinnen und Breathworkerinnen schamanisch arbeiten, da im Kern ihrer Praktik steht, Menschen in einen alternativen Bewusstseinszustand zu führen und sie bei ihren Erfahrungen zu begleiten.


Techniken, mit denen man sich selbst oder andere in veränderte Bewusstseinszustände versetzen kann, gibt es viele:

  • Klang, z.B. mit Rasseln (da sind sie nun, die Rasseln!), Trommeln, Gesang

  • Bewegung, z.B. durch Tanz, Schütteln (wie beim germanischen Seidr), Drehen (wie bei den Sufis)

  • Körperliche Erschöpfung oder Hunger, z.B. bei den Sundances und der Vision Quest

  • Atem

  • Meditation

  • Entheogene Substanzen (z.B. Mezcalito/Peyote; Ayahuasca; Ninos Santos/Psilocybin; Alcohol; Tobaco)

  • Rituale


Wenn ich das richtig sehe steht die wissenschaftliche Forschung dazu, warum veränderte Bewusstseinszustände heilsam sein können, noch am Anfang. Auffällig ist aber, dass die Veränderungen, die bei Trauma auf neuronaler Ebene passieren, dieselben Bereiche berühren, die in veränderten Bewusstseinszuständen eine Rolle spielen. Das bezieht sich sowohl darauf, welche Hirnareale und Ebenen des Nervensystems betroffen sind als auch darauf, welche Funktionen der Wahrnehmung und Verarbeitung berührt werden (z.B. Zeitempfinden; Out of Body Experience/Dissoziation). Das Potential von Meditation und Achtsamkeit für Traumaheilung ist mittlerweile wissenschaftlich belegt. Studien zur Wirksamkeit von entheogenen Substanzen bei Depression und Angsterkrankungen sind weltweit im Gange.


Sowohl in meiner Breathwork als auch den schamanischen Reisen helfe ich Menschen in andere Bewusstseinszustände einzutreten, und leite sie in ihrer Erfahrung an. Dafür versetze ich mich auch selbst regelmäßig in Trance oder komme zumindest in einen Flow-Zustand. Unabdingbar ist meine eigene Trance für die schamanische Energiearbeit. Wenn ich im Energiekörper einer anderen Person Blockaden löse, hilft mir der veränderte Bewusstseinszustand, um klar sehen zu können. Mit etwas Übung ist es aber relativ einfach, sich selbst mit Rasseln oder Trommeln einzutrancen.


Schamanismus als Arbeit mit Energien


Schamanen lernen Energien zu erkennen und zu lenken. Dies kann man metaphorisch verstehen – im Sinne von: sie lernen, Situationen zu erkennen und zu beeinflussen – oder direkt – im Sinne von, sie können die Energie, aus der die Welt besteht wahrnehmen und beeinflussen. Von welcher “Energie” ist im zweiten Fall die Rede? Je nach Tradition heißt sie Prana, Chi, Lebensenergie.

Die bekannten Weisheitstraditionen dieser Welt wissen, dass wir auch energetische Wesen sind. Dies wird im Qi Gong genauso wie im Yoga und in schamanischen Praktiken aufgegriffen. In der toltekischen Lehre geht man davon aus, dass Energie der Grundstoff des Universums ist, sowohl der materiellen wie nicht-materiellen Phänomene. In mehreren Traditionen wird dann weiter unterschieden zwischen verschiedenen Arten von Energie.


„Energie ist der Grundstoff allen Lebens. Und die Schamanin hat gelernt, gezielt ins Energiesystem des Menschen einzugreifen.”

In Bezug auf den Menschen wird in den vedischen Lehren auch von den “subtle bodies” gesprochen, die uns neben unserem physischen, materiellen Körper ausmachen. Die Schamanin hat (genauso wie Praktizierende diverser Naturheilverfahren wie TCM oder Shiatsu) gelernt, gezielt ins Energiesystem des Körpers einzugreifen und hier Blockaden aufzulösen. Dabei scheinen sich verschiedene schamanische Richtungen dahingehend zu unterscheiden, wie sie eingreifen. Manche fokussieren sich mehr auf die direkte Manipulation des Energiekörpers (im Sinne von: hier fließt etwas nicht, da können wir die Blockade ‘händisch’ weg machen), während bei anderen das Aufdecken und Verändern von Verhaltensweisen, die zur Blockade führen, im Vordergrund steht. Ich habe in meiner Ausbildung zunächst gelernt, Blockaden ‘händisch’ zu lösen. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Toltekismus hat sich mein Fokus mehr dahin verschoben, wie unser Verhalten energetische Blockaden oder Energiemangel begünstigt. In meiner Arbeit kombiniere ich mittlerweile beide Perspektiven.



Schamanismus als Arbeit mit und Lernen von der Natur


Diese Definition von Schamanismus habe ich von Jonathan Hammond, der sich mit Hawai’ianischem Schamanismus (Huna) befasst, gehört. Nach allem, was ich bisher gelernt und erfahren habe, machte diese Idee sofort Sinn. Denn eine große Anzahl schamanischer Techniken hat mit Natur zu tun, z.B. die Feuerzeremonie, das Naturbild, das sich mit Krafttieren verbinden, das Räuchern.


Bei diesen Techniken geht es meines Eindrucks nach zunächst einmal darum bestimmte Fähigkeiten zu schulen, wie das aufmerksame Beobachten, das Wahrnehmen mit verschiedenen Sinnen, das Berücksichtigen der eigenen Intuition, sowie insgesamt darum, ein Gespür für seine Umgebung zu entwickeln. Zudem werden wir in diesen Natur-bezogenen Praktiken, so wir sie denn richtig einsetzen, immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen. Die Natur spiegelt uns, was im Moment eigentlich mit uns los ist.


„Schamanismus erinnert uns daran, dass wir zyklische Wesen sind, eingebunden in die Kreisläufe der Natur.”

Ich habe in Feuerzeremonien schon die erstaunlichsten Erfahrungen gemacht, und viel gelernt darüber, was meine Erwartungen und Ansprüche, meine Ängste und letztlich meine Muster im Denken und Fühlen sind. Mit der Natur aufmerksamer in Beziehung zu treten, sie als Spiegel und Lehrmeisterin zu verstehen, hat mich auch viel über die Kreisläufe des Lebens und meine eigene zyklische Natur gelehrt. Auch bei anderen konnte ich sehen, wie die Befassung mit der Natur – sowohl der eigenen als auch der uns umgebenden – Menschen Verständnis und Entspannung bringt.


Schamanismus als Brücke zwischen den Welten


Klassischerweise ist mit den Welten, die es hier zu verbinden gilt, die materielle Welt des Alltags und die geistige Welt der Spirits gemeint. Mit dieser vierten Definition kenne ich mich am wenigsten aus, da sie nicht im Mittelpunkt meiner schamanischen Arbeit steht. Ich denke dabei vor allem an spiritistische Praktiken und Menschen, die als Medium tätig sind. Wenn ihr euch für diesen Aspekt von Schamanismus interessiert, dann kann euch z.B. Hannah Achenbach, meine Kollegin von Feelconnect, mehr dazu erzählen.


Versteht man unter der Welt der Spirits eine symbolisch vermittelte Dimension (siehe Winkelman 2010) oder Spiritualität im Allgemeinen, bewege ich mich selbst auch zwischen diesen Welten und baue Brücken für andere Menschen. Generell ist dies auch ein Anliegen von Feelconnect: Spiritualität und Wissenschaft zu verbinden, und spirituelle Praktiken zu erden, d.h. zu verbinden mit der Bewältigung unserer alltäglichen Herausforderungen. Mehr dazu könnt ihr bald auf unserer Website lesen und in unserem Feelconnect Podcast hören.


Quellen:


Ember, Carol R., Christina Carolus. 2017. “Altered States of Consciousness”

in C. R. Ember, ed. Explaining Human Culture. Human Relations Area Files

17.1.22


Pollan, Michael. 2021. This Is Your Mind on Plants. New York: Penguin Press.

Winkelman, Michael. 2010. Shamanism: A Biopsychosocial Paradigm of Consciousness and Healing. 2nd ed. Santa Barbara, Calif: Praeger.



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